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Karate und die japanischen Sprache
Wo immer auch Japaner zusammenkommen, sie bekunden sich gegenseitiger Rücksichtnahme. Ihre für uns etwas seltsam anmutenden häufigen und tiefen Verbeugungen, die übrigens die Funktion unseres Händeschüttelns erfüllen, sind eine Art Demutsgebärden. Wer einen Bekannten auf der Straße trifft oder in ein Zimmer eintritt, ruft nicht unbekümmert einfach „Hallo“, sondern er murmelt Shitsurei Tsurei Shimas. Dieses könnte man in etwa übersetzen mit „Entschuldigen Sie, daß ich Sie belästige“. Bei einer Gesprächseröffnung ist die Redemodalität in Japan so konventionell festgelegt,
dass ein Japaner auf bestimmte sprachliche Formen, seien sie nun bewusst oder unbewusst angewandt, nicht verzichten kann.
Woher kommt diese für uns Westeuropäer so streng anmutende Höflichkeit, die durch besonders viele verschiedene Sprachformeln geprägt ist? Sicher sind die Gründe vorwiegend in der Geschichte dieser Insel zu suchen. Japaner haben immer schon eng auf eng gelebt, was dazu führte, daß man kaum so etwas wie Privatheit erreichen konnte. Es galt immer, gut miteinander auszukommen. Auch heute sind noch in traditionell japanischen Häusern äußerst dünnwandig (Holzrahmen mit Papier), so daß sozusagen der Nachbar alles mithören kann. Die Türen traditioneller japanischer Häuser sind auch nicht verschlossen, man klopft nicht, wenn man hineingeht, man geht einfach hinein und macht sich dann allerdings durch äußerste Höflichkeit bemerkbar.
Höflichkeit im Japanischen wirkt für uns Deutsche übertrieben, wobei noch eine für uns Laien oft schwer verständliche Unverbindlichkeit der Aussagen hinzutritt. So gehört es z.B. zum guten Ton, niemals die Gefühle des anderen zu verletzen. Man würde in persönlichen Dingen einem anderen nie ein klares „nein“ auf eine Frage hin antworten. Man kann sich das in etwa für folgende Situation vorstellen: Ein junger Deutscher lernt eine Japanerin kennen und will diese ins Kino einladen. Wenn die Japanerin nicht will, dann erwarte man nicht, dass sie einfach mit „nein“ antwortet, sie wird mit ziemlicher Sicherheit mit „vielleicht“ ihre Ablehnung kundtun. Das Problem liegt nun darin, dass in Deutschland ein vielleicht wirklich ein „vielleicht“ ist, in Japan hingegen eine sehr höfliche Form der Ablehnung.
Es ist also kaum übertrieben zu sagen, dass ein Japaner einem Gesprächspartner nur sehr schwer einfach mit nein (iie) antworten kann. Dies gilt als besonders unhöflich, weil man glaubt, daß eine solche Verneinungsform zum Gesichtsverlust des Gesprächspartners führt. Man glaubt, daß die verneinende Beantwortung gleichzeitig eine Verneinung der Persönlichkeit des Gesprächspartners bedeutet.
Japaner lehnen also ein klares und hartes „nein“ ab, aber nicht aus Entschlusslosigkeit, sondern weil jede deutliche Ablehnung, jede negative Entscheidung, die bestehende Harmonie gefährdet. Einen Gesprächspartner zu einem klaren „nein“ hinzudrängen, beweist einen außerordentlichen Mangel an guten Manieren. Die Kunst des Gesprächs besteht also darin, gar nicht erst eine Situation entstehen zu lassen, bei der eine klare Ablehnung unvermeidlich wird. Dies ist eine Anforderung an denjenigen, der die Frage stellt. Stattdessen sollte man eine Frage nur als Möglichkeit anklingen lassen, was dem
anderen die Chance gibt, im Falle seiner Bereitschaft von sich aus das Thema zu konkretisieren oder bei negativer Einstellung, die Andeutung zu überhören, womit sich die Frage erledigt, ohne daß ein „nein“ formuliert werden muß.
Ein weiteres Beispiel für die sehr unterschiedlichen Konventionen: Wenn man einen Sprecher nicht versteht, dann sagt man: „Entschuldigen Sie, das habe ich leider nicht verstanden.“ Damit fordert man den Gesprächspartner auf, seinen Satz zu wiederholen, oder seinen Redeinhalt anders auszudrücken. Bei größerer Vertrautheit ist es in Deutschland auch möglich zu sagen: „Es tut mir leid, das habe ich leider nicht verstanden“. Diese letzte Ausdrucksform klingt für den Japaner unter Umständen unhöflich, weil man dem Partner in Japan nicht unterstellen möchte, er habe sich nicht verständlich ausgedrückt.
Wenn der Japaner sagt: „Entschuldigen Sie bitte …“, dann ist meist damit ein Schuldgefühl
verbunden, also mit dieser Aussage der Wiederherstellung einer verletzten Norm oder Erwartung geäußert. Dies ist dann für einen Japaner schwerwiegend, wenn er z.B. in einen Verkehrsunfall in Deutschland verwickelt wird. Er wird sich, da der Japaner vielleicht auch Schwierigkeiten hat, unsere Sprache richtig zu verstehen, vermutlich falsch ausdrücken, weil er sein Verlegenheitsgefühl in dieser anormalen Situation ausdrücken möchte („Entschuldigen Sie …“). Auch wenn der Japaner objektiv keine Schuld an dem Unfall hat, könnte er durch diesen unbewussten Verstoß gegen die Redemodalität der deutschen Sprachkonvention durchaus als schuldig betrachtet werden. Die psychologisch schwerwiegenden Vorschriften der japanischen Etikette beinhalten u.a., sich für Fehler zu entschuldigen. Diese gelten auch dann, wenn der so genannte Schuldige nach westlichen
Begriffen eigentlich gar nicht schuldig ist, sondern nur der äußere Anlass für eine Handlung, die eine negative Auswirkung auf jemand hatte, den der Japaner zur Reaktion fordert. Das buddhistische Denken von Ursache und Wirkung ist eindeutig verschieden vom westlichen Denken und lässt den Japaner, obwohl ihm der Grund dieses Einflusses gar nicht mehr bewusst ist, sich entschuldigen für Dinge, mit denen er nur äußerlich etwas zu tun gehabt hatte, und zudem völlig schuldfrei ist. So ist Karate-Dô nicht nur eine Kampfkunst, sondern auch eine Möglichkeit, quasi nebenbei einen faszinierenden anderen Kultur- und Sprachraum kennen zu lernen.